Akademische Kuriositäten
Dieser Artikel erschien ursprünglich im N#MMER Magazin, Ausgabe 01/2014.
Autismus sei eine Epidemie, eine Plage, Autisten die gestohlenen Kinder, wie die Wechselbälger der Volkssagen. Ihr Leben sei eine Tragödie und mehr noch das Leben der Eltern, die mit Kindern gestraft sind, die sie nicht lieben, nicht umarmen. Der Zustand einiger Autisten im „low-functioning“ Spektrum sei „schlimmer als der Tod“, urteilen einige Forscher. Natürlich ganz wertungsfrei.
Seit rund zwanzig Jahren blasen Interessengruppen und Elternorganisationen diese Melodie und haben so maßgeblich das Bild der Gesellschaft von Autismus und Autisten geprägt. Ihre Arbeit ist mitverantwortlich, dass der Fokus, der in den 1970er und 1980er Jahren vor allem auf Contergangeschädigten und in den 1990ern auf Menschen mit Trisomie 21 lag und nun zu Autismus als medizinischen und gesellschaftlichen Problem weitergewandert ist. Besonders nachdem 1992 das Asperger-Syndrom ins Diagnosehandbuch ICD-10 aufgenommen und das autistische Spektrum dadurch deutlich erweitert wurde.
Das, zusammen mit Organisationen, die ihre Spendeneinkünfte hauptsächlich in die Forschung fließen lassen, sorgte für einen Boom der Autismus-Forschung. Viele Regierungen schätzen das Problem so extrem ein, dass das Wörtchen “Autismus” alleine die Finanzierung jedes schwindsüchtigen Forschungsvorhabens sicherstellt.
Leider geht es bei dieser Forschung nur selten darum, wie man die Lebenssituation von Autisten verbessern kann. Die meisten Forschungsprojekte kann man in fünf einfache Kategorien einteilen: die Ursachen-Forschung, die Erkennungs-Forschung, die Normalisierungs-Forschung, die Verhinderungs-Forschung und die Rechtfertigungs-Forschung.
Die Ursachen-Forschung will herausfinden, wie Autismus entsteht. An sich ein Ziel, dem sich kaum ein typisch-wissensdurstiger Autist verschließen würde, würde das Vorhaben nicht im leichten Bogen direkt zur Verhinderungs-Forschung führen. Abgesehen von den Zwillingsstudien der 1980er, die auf eine hohe erbliche Komponente hinwiesen, picken sich die meisten dieser Studien einen winzigen Aspekt heraus und prüfen, ob dieser das Autismusrisiko hebt. Merkwürdigerweise fast immer mit positivem Ergebnis, welches in der Autisten-Gemeinschaft dann gerne als „Autismusursache der Woche“ bezeichnet wird. So weiß man zwar immer noch nichts Genaues — jedenfalls nicht wirklich — aber alte Väter sollten vielleicht nicht unbedingt ein Kind mit einer rauchenden Mutter in der Nähe einer agrarwirtschaftlichen Anlage zeugen. Schon gar nicht, wenn die Mutter vorher etwas gegen ihre Kopfschmerzen eingenommen hat.
Die Erkennungs-Forschung währenddessen möchte bestehende Testverfahren nicht nur verbessern, sondern am besten gleich ganz ersetzen. Wer kann sich in der modernen Medizin schon mit einer Diagnosephase von zehn Stunden und mehr herumschlagen und wer möchte denn wirklich endlose Familienanamnesebögen lesen? Viel besser wäre es doch, wenn man ein Baby fünf Minuten beobachtet und wenn es nicht richtig in die Augen des Beobachters blickt — Kabumm — dann muss es wohl Autismus sein. Und ab in die Vierzig-Stunden-pro-Woche-Early-Start-Denver-Model-Therapie. Da wundert man sich nur und hofft, dass das Kleine nicht gerade Blähungen oder andere Probleme hatte, als dem komischen Kerl da vor sich ständig in die Augen zu schauen.
Die vierzig Stunden pro Woche sind nötig, so sagt uns die Normalisierungs-Forschung, denn nur ein Autist, dem man das Autist-Sein nicht mehr anmerkt, ist auch ein guter Autist. Das „ideale Ergebnis“ der Therapien sind Autisten, die den Blickkontakt suchen, normal sprechen und die keine Spezialinteressen haben. Ernsthaft. Taubenzüchtervereine und Briefmarkensammler sollten sich vielleicht in Acht nehmen, nicht als nächstes ins Fadenkreuz marodierender Forscher zu geraten.
Das ist den Medikamentenforschern allerdings schnuppe. Ganz unmitleidig, dass sie durch ihre Arbeit Hunderttausende Arbeitsplätze von Therapeuten und Sonderpädagogen vernichten würden, möchten sie ihre Wunderdroge lieber aus billigem Brokkoli extrahieren. Pille rein. Blickkontakt da. Fertig. Der Autist ist normal und alle sind happy. Außer vielleicht der Autist selbst, aber wer fragt denn schon DIE?
Die Verhinderungs-Forscher gönnen weder den Therapeuten noch den Pillendrehern ihren Spaß. Sie möchten die Geburt der tragischen Existenzen von vornherein verhindern und so den bedauernswerten Eltern wie der Gesellschaft ihre Gegenwart ersparen. Am liebsten mit einem Blut-Schnelltest à la Trisomie 21. Vollkommen ungeachtet dessen, dass damit keineswegs ein kurzes und todgeweihtes Leben unter Qualen beendet wird, sondern es sich — ebenso wie bei Trisomie 21 — nur um tief-braune Eugenik handelt, die menschliches Leben schon bald nach der Zeugung in lebenswert und -unwert sortiert. Unter dem Mäntelchen des Mitgefühls und humanitärer Ethik.
Ihnen allen arbeitet die Rechtfertigungs-Forschung zu, die sich hauptsächlich mit der Beweisführung beschäftigt, was Autisten alles nicht können und nie können werden. Sie sind zum Beispiel meist irgendwie ein bisschen dumm und — erneut kein Scherz — allesamt schlechte Autofahrer. Und glaubt man Forschern wie Clare Allely, ohnehin nur einen Schlag auf den Kopf vom Massenmörder entfernt. Kein Wunder also, dass Autisten, bei dem, was derzeit aus Wissenschaft und Forschung zu hören ist, oft nicht wissen, ob sie lachen, weinen oder ihren Kopf rhythmisch gegen die Wand schlagen sollen. Wobei es meist schlicht bei dem sehr mulmigen Gefühl im Bauch bleibt, was da in Zukunft auf uns und die kommenden Generationen von Autisten zukommen wird. Sofern es diese noch geben wird.
Abgesehen davon, dass es sich in der Autismus-Forschung um ein munteres Häufchen Eugeniker und Wissenschaftler des alten Schlags zu handeln scheint, die krampfhaft das medizinische Modell von Behinderung hochzuhalten versuchen, tummelt sich nur in diesem Gebiet scheinbar auch ungestört eine Horde Wissenschaftler, die es mit Ethik und wissenschaftlichen Standards nicht so genau nimmt. Der inzwischen berüchtigte, mit Schimpf und Schande aus der wissenschaftlichen Gemeinde herausgejagte Andrew Wakefield bildete da nur die Schneeflocke ganz oben auf dem Eisberg. Wakefield bemühte sich nach Kräften, Impfungen für Autismus verantwortlich zu machen, damit die Eltern der betroffenen Kinder Schadenersatz einklagen konnten.
Weder Wakefield noch die Eltern schreckten dabei davor zurück, Bestechungsgelder anzunehmen, beziehungsweise zu zahlen, und die Kinder mit invasiven und schmerzhaften Tests zu traktieren. Da passt es ins Bild, dass Google Scholar fast 400 Ergebnisse für Autismus und Elektrokrampftherapie alleine aus dem Jahr 2014 findet. Dem gegenüber erscheint es fast als lässliches Vergehen, dass manche Autismus-Forscher im Jahr vierzig Artikel und mehr publizieren, in denen sie vor allem sich selbst zitieren und die in einem wissenschaftlichen Journal erscheinen, das sie selbst herausgeben. Aber diese Sitten oder eher Unsitten sind der Indikator für die Wild-West-Mentalität einiger Autismus-Forscher, die in jedem anderen Bereich der wissenschaftlichen Forschung Reputationen zerstören und Karrieren beenden würde.
Bei aller autistischen Liebe für Wissen und Erkenntnis; dahin wird uns der aktuelle Zustand der Autismus-Forschung nicht führen.